Unverstanden und aussortiert?
Eine Gesprächsrunde zum Thema Lernschwäche
Der Mensch lernt am effektivsten, indem er aktiv Dinge tut. Wenn wir uns zum Beispiel etwas aufschreiben, können wir uns den Inhalt mit hoher Wahrscheinlichkeit gut merken – eben gerade, weil wir beim Lernen aktiv waren. Der Volksmund behält damit wieder einmal recht: Wer schreibt, der bleibt! Was tun jedoch Menschen, denen das Lesen und Schreiben, oder gleich das Lernen an sich, schwerfällt? Wo bleiben die? Um genau darüber zu beraten, kamen am 30. September, dem bundesweiten „Tag der Legasthenie und Dyskalkulie“, Mannheimer Sprachtherapeut*innen, Lehrer*innen sowie andere Sachverständige und Interessierte zu einer Onlinekonferenz zusammen. Ziel war es – nicht zuletzt auch im Rahmen der einander.Aktionstage 2020 – einen Austausch zu ermöglichen, Informationskanäle zu eröffnen, und die einzelnen Parteien miteinander zu vernetzen. An der Planung und Durchführung der Gesprächsrunde waren das Mannheimer Bündnis und Vertreter der Stadt Mannheim, sowie das Duden Institut für Lerntherapie Mannheim beteiligt.
„Aussortiert – Potenziale von Kindern mit Legasthenie werden häufig verschenkt!“, ließ der Titel der Veranstaltung verlauten. Wieso dem so ist und wie es dazu kommen kann, erläuterte den Teilnehmer*innen Paula Quack, Leiterin des Mannheimer Duden Instituts, in ihrem einleitenden Vortrag. Als erfahrene Lerntherapeutin kennt Frau Quack nicht nur die Anzeichen einer Lernschwäche, sondern sie weiß auch, wie Betroffenen geholfen werden kann. Die wichtigste Erkenntnis vorweg: Eine Lernschwäche sagt rein gar nichts über die Intelligenz oder besondere Begabungen des*der Betroffenen aus. Sie erschwert lediglich die Fähigkeit zum Aneignen und Abrufen von Informationen, also kurz: das Lernen. Ursachen dafür gibt es viele. Sie sind jedoch von Kind zu Kind verschieden und können sowohl von inneren als auch äußeren Faktoren begünstigt werden: Unter anderem kann eine Verhaltensstörung wie das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) unser Lernverhalten negativ beeinflussen. Aber auch Spannungen im familiären Umfeld – Streit oder eine elterliche Trennung – wirken sich mitunter auf die Aufnahmefähigkeit aus.
Am häufigsten offenbart sich eine Lernschwäche im Grundschulalter, wenn es vermehrt zu Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben (Legasthenie) oder im Umgang mit Zahlen (Dyskalkulie) kommt. Die Eltern betroffener Kinder müssen oft feststellen, dass ihre Kleinen wenig Motivation für den Unterricht aufbringen, lange für Übungen brauchen und trotz ständiger Wiederholung viele Fehler machen. Ein Verdacht auf Legasthenie besteht vor allem dann, wenn das Lesetempo sehr langsam, das Schriftbild verkrampft ist und das Kind Probleme hat, eigenständig den Sinn eines Textes zu erfassen. Fortschritt kommt nur langsam; Erfolgserlebnisse bleiben aus. Stattdessen droht ein Teufelskreis aus schlechten Noten, Ängsten und gemindertem Selbstvertrauen. Kinder, denen hier nicht geholfen wird, verfallen in Frustration und stehen noch dazu unter einem permanenten Leistungsdruck. Wenn dieser Druck sich in psychosomatischen Leiden entlädt, kann es vorkommen, dass Schulkinder vor oder während des Unterrichts vermehrt über Kopf- und Bauchschmerzen klagen.
Eltern, die entsprechende Warnsignale einmal erkannt haben, können einiges tun, um ihren Kindern beim Lernen zur Seite zu stehen. Für die Förderung Zuhause empfahl Lerntherapeutin Paula Quack feste Übungszeiten mit kurzen Intervallen, frei nach der Devise: Qualität statt Quantität! In kürzeren Lernphasen sei es einfacher, die Motivation aufrechtzuerhalten und man laufe nicht Gefahr, die Aufmerksamkeitsspanne des Kindes überzustrapazieren. Eltern sollten dabei nicht so sehr versuchen, die Rolle des Lehrers einzunehmen, sondern ihre Kinder möglichst viel selbst erklären lassen und nur bei Schwierigkeiten Hilfestellung geben. Dies fördert das Verständnis für Zusammenhänge und die Selbstständigkeit beim Lernen, ohne dass sich ein Kind alleingelassen und überfordert fühlen muss. Verständnis und Geduld seien beim gemeinsamen Lernen besonders wichtig, mahnte Quack weiterhin. Nach getaner Arbeit dürfe es dann aber auch eine kleine Belohnung für alle Beteiligten geben.
Doch was, wenn es trotzdem weiterhin schlechte Noten hagelt? Eine Anlaufstelle für Eltern, deren Kinder Anzeichen einer Lernschwäche zeigen, sind Einrichtungen für Lerntherapie. Hier erhalten Betroffene zunächst eine Beratung sowie eine umfassende Diagnose; danach wird die gezielte Therapie eingeleitet. So gehen auch die Lerntherapeut*innen am Mannheimer Duden Institut vor. Leiterin Quack verriet, worauf dort besonders geachtet werde, nämlich stets „mit den Stärken die Schwächen der Kinder zu kompensieren.“ Da komme es in den Therapiestunden schon einmal vor, dass Rechenaufgaben gesungen würden, weil sie einer musikalisch begabten Schülerin so leichter fielen. Was wie eine ausgefallene Methode anmutet, steht im Einklang mit dem Konzept der Integrativen Lerntherapie, wie sie an den Duden Instituten angeboten wird. Integrativ deshalb, weil hier Elemente verschiedener therapeutischer Ansätze vereint werden, unter anderem Ergo-, Spiel- und Gesprächstherapie. Auch die Musik darf nicht fehlen, denn auch hier gilt: Wer beim Lernen aktiv ist, prägt sich Inhalte besser ein! Außerdem macht Musik Freude und, wie Frau Quack betont, ist die Freude am Lernen besonders wichtig, um lerngeschwächten Kindern ihr positives Selbstwertgefühl zurückzugeben.
Es gibt noch viel zu tun! Die Teilnehmer der Mannheimer Gesprächsrunde am diesjährigen „Tag der Legasthenie und Dyskalkulie“ berieten neben der Therapie von Lernschwäche auch über Defizite in der schulischen Förderung. Viele Schulen im Land bieten mittlerweile Förderprogramme für Kinder mit Lernschwäche an, allerdings besteht dieses Angebot – Bildungsföderalismus lässt grüßen – nicht flächendeckend. In manchen Mannheimer (Grund-)Schulen gibt es sogenannte Förderstunden, in denen betroffene Schüler*innen Nachhilfe in ihren jeweiligen Problemfächern erhalten. Ein guter Ansatz, bei dem es an der Umsetzung hapert, finden einige Mannheimer Lehrer*innen und Beauftragte für Lese-Rechtschreibschwäche. Einerseits genüge eine einzige Unterrichtsstunde pro Woche kaum, um in gebotenem Maße auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Gleichzeitig überschreite die individuelle Betreuung die Kapazitäten vieler Lehrkräfte. Diese fühlten sich mit der Zusatzbelastung überfordert und hängengelassen. Dabei sei es selbst für ausgebildete Pädagogen schwer, eine Lernschwäche überhaupt erst einwandfrei festzustellen und dann darüber zu entscheiden, welchen Schüler*innen eine Zusatzbetreuung zukommen soll. Auch fehle es an Infomaterial und Beratungsstellen, an die Lehrkräfte die Eltern derselben weitervermitteln könnten. Die Verantwortung für Diagnose und Förderung dürfe daher nicht so ohne Weiteres auf die Lehrer*innen und Schulen abgewälzt werden.
Ingrid Psaridis, zweite Vorsitzende des Landesverbands Legasthenie und Dyskalkulie Baden-Württemberg e.V., kritisierte dennoch, dass es bisher nicht möglich gewesen sei, unsere Schulen legastheniefreundlich zu machen. Besonders während der Corona-Krise seien Kinder mit Lernschwäche „durch den Onlinebetrieb in Schulen massiv abgehängt worden“, da ihnen der soziale Kontakt fehlte und sie ohne ihn erwiesenermaßen noch schlechter lernten. Auch überfordere sie die zunehmende Digitalisierung. Diese Kinder würden so zu „Verlierern der Pandemie“, ein Umstand, der erst kürzlich den Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. dazu veranlasste, einen Antrag vor die Bundesregierung zu bringen. In diesem machte der Verband auf die erschwerte Situation für Kinder mit Lernschwäche aufmerksam und versuchte, ein Nothilfeprogramm zu erwirken. Frau Psaridis betonte anhand dieses Beispiels die Bedeutung der Verbände und ihrer Arbeit. Sie sind Zusammenschlüsse von Betroffenen, Pädagog*innen und Expert*innen, die gemeinsam Aufklärung betreiben und sich für Chancengleichheit einsetzen.
Besonders die Chancengleichheit war es, die den Versammelten – von denen viele über persönliche Berührungspunkte mit Lernschwäche verfügten – am Herzen zu liegen schien. Ihr Gespräch offenbarte jedoch, dass noch einiges an Handlungsbedarf besteht, wenn gewährleisten sein soll, dass betroffene Kinder nicht mehr so einfach „aussortiert“ werden. Zentral sei da vor allem die schulische Förderung, aber es mangele auch immer noch an öffentlichem Bewusstsein für die Thematik. Immerhin beschränken sich die Auswirkungen einer Lernschwäche nicht immer nur auf die Kindheit. So sähen sich viele junge Erwachsene beim Berufseinstieg mit der Frage konfrontiert: Sollte ich in meiner Bewerbung angeben, dass ich Legastheniker bin oder sinken damit meine Chancen auf Einstellung? Was sich zunächst abwegig anhört, erweist sich mitunter als berechtigte Sorge. Betroffenen wird gar empfohlen, ihre Legasthenie oder Dyskalkulie erst preiszugeben, wenn sie vorher mindestens zu einem persönlichen Gespräch eingeladen wurden. Wären Arbeitgeber hinreichend über die Potenziale von Menschen mit Lernschwäche informiert, müssten letztere vielleicht weniger um ihre Chancen bangen.
Sie vermuten, dass Ihr Kind oder eine*r Ihrer Schüler*innen Anzeichen einer Lernschwäche zeigt? Dann informieren Sie sich auf der Website des Mannheimer Duden Instituts über deren Therapieangebot oder besuchen Sie die Internetseite des Landesverbands.