Das Kopftuch – Nur ein „Stückchen Stoff“?
Am Dienstagabend, dem 06. Oktober, traf man sich in der St. Sebastian Kirche am Marktplatz, um einem Vortrag über „das Kopftuch – Diskurse um ein Stückchen Stoff“ zu lauschen und sich in einer anschließenden Diskussionsrunde zu dieser vielschichtigen Thematik auszutauschen. An der Veranstaltung waren sieben Partner des Mannheimer Bündnisses beteiligt: der Caritasverband Mannheim e.V., der AWO Kreisverband Mannheim e.V., das Katholische Citypastoral Mannheim, das Diakonische Werk Mannheim, Evangelische Frauen in Baden und die Evangelische Landeskirche in Baden und letztlich das Ökumenische Bildungszentrum sanctclara. Anlass für deren Zusammenarbeit boten nicht nur die einander.Aktionstage 2020, sondern auch die bundesweite Interkulturelle Woche, die am 04. Oktober zu Ende ging. Der eigentliche Impuls für die Veranstaltung ging jedoch von der Ausstellung „Perücke, Kopftuch, Ordenstracht – Aus meiner Sicht“ aus, die noch bis Ende Oktober 2020 in den Fenstern der Citypastoral Mannheim zu sehen ist. Gezeigt werden Fotos von Frauen – Jüdinnen, Muslimas und Christinnen – die sich aus ganz persönlichen Gründen für oder gegen das Tragen einer Kopfbedeckung entschieden haben und diese Gründe mit einer Gruppe Schüler des Hans und Sophie Scholl-Gymnasiums Ulm geteilt hatten.
Der Vortrag, der im Zusammenhang mit dem Schulprojekt bereits im März hätte stattfinden sollen, musste aufgrund der Covid-19-Einschränkungen bis in den Oktober verschoben werden. Die Referentin, Frau Prof. Dr. Gaby Franger, reiste eigens dafür aus Nürnberg an. Franger ist Dozentin für Soziale Arbeit, Interkulturelle Soziale Arbeit, Menschenrechte und Internationale Soziale Arbeit. Sie beschäftigt sich seit rund vierzig Jahren mit dem Kopftuch und durfte dabei, nach eigener Aussage, immer wieder feststellen, dass kein anderes Kleidungsstück hierzulande und anderswo so kontrovers diskutiert und dabei allzu oft als das Symbol der Fremdheit schlechthin stigmatisiert werde. Aber hat denn das Kopftuch wirklich rein gar nichts mit „unserem“ christlich-europäischen Kulturkreis zu tun? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, setzte sich die Expertin mit diversen (nicht-)religiös bedingten Formen der weiblichen Kopfbedeckung und deren Ursprüngen auseinander. In ihrem Vortrag teilte sie ihre Erkenntnisse mit ihren Zuhörern*innen und nahm diese mit auf eine spannende Reise durch verschiedene Länder, Epochen und Kulturen.
Die weibliche Kopfbedeckung steht in einer langen Tradition
Und alles begann mit den Germanen! Ja, richtig: Das Brauchtum des Kopftuchtragens geht auf niemand anderen zurück als auf unsere entfernten Vorfahren, welche den Haaren ihrer Frauen magische Fähigkeiten und eine besondere Anziehungskraft zusprachen. Das Bedecken des Haares kam in ihrer Weltanschauung einer Bändigung dieser mystischen Kräfte gleich. Doch auch von Magie einmal abgesehen, war das Kopftuchtragen in der germanischen Gesellschaft gängige Praxis. Sobald Frauen heirateten, trugen sie ihr Haar nämlich nicht länger offen, sondern verbargen es unter Tüchern; nicht umsonst bedeutet das germanisch-stämmige Wort „Weib“ so viel wie „die Verhüllte“. Und damit nicht genug, denn dieses archaisch-europäische Brauchtum blieb uns bis in die Neuzeit erhalten: Nürnberger Bürgerinnen des 17. Jahrhunderts, beispielsweise, trugen nach ihrer Eheschließung mit Vorliebe ein sogenanntes Regentuch, eine Art Überkleid mit Umhang, welcher Haar und Körper bedeckte und lediglich das Gesicht freiließ. Mit diesen und weiteren Beispielen machte Frau Prof Dr. Franger den Anwesenden schnell deutlich, dass das Tragen von Kopfbedeckungen, historisch betrachtet, in vielen Kulturen und Gesellschaften gang und gäbe war und ist – mitunter auch religiös motiviert.
Verhüllung für den Glauben
Wenn es nämlich um die Haartracht ihrer weiblichen Gläubigen geht, so stimmen die drei abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – seit jeher darin überein, dass diese ihre Reize in bestimmten Situationen oder Lebenslagen bedecken sollten. Im Hohelied Salomos, beispielsweise, wird das Frauenhaar als etwas Sinnliches aufgefasst, das nur dem Ehemann vorbehalten sein soll; so wurde die Kopfbedeckung zum besonderen (Standes-)Merkmal verheirateter Jüdinnen in der Gemeinde. Und auch dem Christentum ist die Verhüllung nicht fremd. Vielmehr schreibt der Apostel Paulus im Ersten Brief an die Korinther, Frauen haben vor dem Betreten eines Gotteshauses und beim Gebet ihr Haupt zu bedecken. Noch heute ist dieses Brauchtum in besonders christlich geprägten Ländern der Welt verbreitet. Was den Islam betrifft, so betont Franger, dass eine „Kopftuchpflicht“ – sofern davon denn die Rede sein kann – von den Muslim*innen sehr individuell aufgefasst und gelebt werde. Da gebe es selbst innerhalb ein und derselben Familie durchaus unterschiedliche Auslegungen. Gewisse generationenübergreifende Entwicklungen sind jedoch auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu beobachten: Unter der Regierung Atatürks wurde der Hijab in der Türkei in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus der öffentlichen Sphäre verbannt. Ein Jahrhundert später geht der Trend wieder hin zum Tuch.
Diskurs um das „Stückchen Stoff“
Spiegeln derartige Phänomene die Rückbesinnung einer Gesellschaft auf ihre konservativen Wurzeln wider? Oder ist das Kopftuch-Comeback, gerade in der Türkei, auch der Politisierung eines religiösen Symbols geschuldet? Welche Rolle spielt die patriarchalische Ordnung und wie ist es dabei um die Frauen bestellt, die ihr Kopftuch tragen wollen – oder eben auch nicht? Antworten auf derlei Fragen konnte der Vortrag nicht liefern. Er schaffte jedoch ein Bewusstsein dafür, dass das Tragen einer Kopfbedeckung historisch und auch religiös betrachtet nichts Ungewöhnliches ist. Nur, wie kommt es dann, dass wir es heutzutage immer noch als fremdartig auffassen? Versuche, die Gesellschaft an das Kopftuch zu gewöhnen, gibt es immerhin reichlich. So brachte 2017 der Sporthersteller Nike 2017 die ersten Sporthijabs auf den Markt. Ein Schritt in die richtige Richtung, fanden die einen und freuten sich, dass die Innovation pünktlich zum Weltfrauentag herauskam. Teile der islamischen Community, dagegen, unterstellten dem Modelabel den Missbrauch eines religiösen Symbols zur eigenen Bereicherung. Ähnlich gespalten fielen die Reaktionen angesichts der Ausstellung „Modest Fashion“ (Engl. „Bescheidene Mode“) aus, die 2018 erstmals in San Francisco gezeigt wurde. In einer Phase verstärkter Islamfeindlichkeit wurde die Ausstellung dort als sehr relevant empfunden und positiv aufgenommen. Als dieselbe ein Jahr später in Deutschland zu sehen war, ging ein Aufschrei durch feministische Kreise. Der Vorwurf: die Haute Couture trage zur Unterdrückung der Frau bei!
In der öffentlichen Debatte rund ums Kopftuch scheint selbiges also stets im Kreuzfeuer zu stehen. Gut gemeinte Ansätze scheitern dabei oft an unvereinbaren Meinungsbildern und verhärteten Fronten. Dies sei, laut Prof. Dr. Franger, sowohl um sich greifender Fremden- und Religionsfeindlichkeit geschuldet als auch der fehlenden Bereitschaft aller Beteiligter, die eigenen Denkstrukturen und Prägungen zu hinterfragen. „Es geht nie nur um die Frage, was eine Frau tragen soll oder nicht“, stellt die Referentin klar. „Es geht um Stellvertreterdiskussionen und Grundsätze in unserer Gesellschaft.“ Grundsätze, an denen wir nicht gerne rütteln; angefangen bei der Gleichstellung von Mann und Frau, die aus westlicher Sicht nicht gewährleistet sein kann, solange letztere sich bedecken muss. Das Bild der verschleierten Frau lässt sich hier nur schwer mit der Vorstellung von hart erkämpfter Gleichberechtigung und Selbstbestimmung vereinbaren. Stattdessen tendiert der Westen zu der Annahme, eine Frau, die Kopftuch trage, müsse unterdrückt und einer überholten patriarchalischen Ordnung unterworfen sein.
Doch an genau dieser Stelle greift unser Unvermögen, uns in andere hineinzuversetzen und verleitet uns zu voreiligen Schlüssen, meint Prof. Dr. Franger. Mit anderen Worten: Wir können unserem Gegenüber nun mal nur bis vor den Kopf – oder das Tuch – sehen und übertragen allzu leichtfertig unsere eigene Wahrnehmung auf andere. Dabei sei klar: „Solange man das Fremde als solches ansieht, kann man die Unterdrückung nur in der fremden Gesellschaft sehen“. Dies verleite zu Annahmen, wie: „Ich bin frei, weil ich Minirock trage – sie darf das nicht, sie ist nicht frei!“ Aber ist Nacktheit wirklich gleich Freiheit? Und können wir Menschen aus anderen Kulturkreisen diese Freiheit aufzwängen? Der Fall Frankreichs gibt hier zu denken: Im Sommer 2016 wurden dort an den Stränden der Côte d’Azur reihenweise muslimische Burkini-Trägerinnen mit Bußgeldern bedacht oder vermeintlich sogar von Polizisten gedrängt, sich zu entkleiden. Die Beamten handelten dabei vorschriftsgemäß, denn 2011 wurde die Vollverschleierung in Frankreich offiziell per Gesetz verboten. Die Referentin sieht hier jedoch einen bestürzenden Widerspruch in sich: Während wir dem Osten vorwerfen, seine Frauen zu zwingen sich zu verschleiern, zwingen wir sie im Westen dazu, sich auszuziehen? Ist den Frauen, die ihren Körper aus ganz persönlichen Gründen verdecken möchten, damit nicht ein zentrales Stück Freiheit genommen? Was verspricht sich der Westen davon?
Von „Ihr“ zu „Wir“
Pauschalisierungen, wie die Annahme, eine Frau könne nicht glücklich oder frei sein, solange sie Kopftuch trägt, erweisen sich allgemeinhin als gefährlich und nicht zielführend. Auch Verbote und Diskriminierung werden keine Gläubige dazu bringen, ihr Kopftuch oder gar ihren Glauben abzulegen. Viel eher ziehen sich diese Frauen aus der Gesellschaft zurück, da sie sie sich in ihr nicht akzeptiert fühlen. Damit sind allerdings auch jene Frauen zum Rückzug gezwungen, die tatsächlich unter ihrer Verschleierung leiden, sich aber auch nicht aus eigener Kraft von ihren familiären oder religiösen Banden lösen können. Geholfen ist damit niemandem. Doch wie ist das nun mit dem Kopftuch? Nur ein „Stückchen Stoff“? Wenn Frau Prof. Dr. Frangers Vortrag den Zuhörenden eines gezeigt hat, dann, dass es ganz so einfach doch nicht ist. Dennoch war der Referentin daran gelegen, nicht das Tuch, sondern den Menschen darunter in den Vordergrund zu rücken: „Hinter jedem Tuch steckt eine andere Geschichte – von Freude, von Lust, manchmal auch von Widerstand! Das Kopftuch lebt und es lebt viel, viel vielfältiger, als wir es uns vorstellen können“. Um dieser Vielfalt mit weniger Angst und Vorbehalten begegnen zu können, bedürfe es „Respekt aller gegenüber allen“, hielt eine Anwesende in der abschließenden Diskussion fest. Aber auch für Aufklärung und nicht zuletzt Chancengleichheit müsse gesorgt sein. Nach Ansicht einer anderen Anwesenden, mangele es auch in Deutschland weiterhin an „interkultureller Sensibilität“. Es könne erst dann die Rede sein von Toleranz und Respekt, wenn akzeptiert werde, dass es Frauen gebe, die ihr Kopftuch freiwillig trügen. Die junge Frau fand hier klare Worte: „Wir kommen nicht weg von ‚Ihr‘ und hin zum ‚Wir‘, wenn wir es nicht schaffen, einen geschützten Raum zu bieten, in dem wir über solche Dinge reden“. Und Redebedarf besteht ganz offenbar mehr als genug.